Einführung
Auswandererbriefe gewähren Einblicke in das neue Umfeld von Migrant:innen. Der Auswanderungsprozess wird in den Briefen thematisiert und sie bieten eine breite Einsicht in den neuen Alltag, den die Ausgewanderten in ihrem Aufnahmeland erleben. Maria Dorothea Engelmann (Hilgard) erhält zwischen dem 29. Februar 1836 und dem 12. Juli 1841 von ihrem Sohn Theodor Erasmus Hilgard Briefe, wovon 29 Stück archiviert sind. Theodor entschließt sich 1835 mit seiner Frau und seinen neun Kindern nach Amerika auszuwandern. Die Reiseroute der Familie Hilgard startet in Zweibrücken, im heutigen Rheinland-Pfalz. Nachdem die Familie Hilgard per Landreise die französische Hafenstadt Le Havre erreicht, geht es mit dem Schiff weiter nach New Orleans. Von dort fahren sie auf dem Mississippi nach St. Louis und lassen sich in der Nachbarstadt Belleville, Illinois nieder. Albert Becker veröffentlicht 1931 in der Zeitung Pfalz am Rhein den Artikel: Theodor Hilgard und seine Auswanderung nach Amerika 1835, aus dem Hilgards Beweggründe hervorgehen:
"Die amtlichen Verdrießlichkeiten und Missverhältnisse waren es bei weitem nicht allein, die diesen Gedanken der Auswanderung Nahrung gaben. […] Der wichtigste dieser Gründe bezog sich weit mehr auf meine Kinder und fernere Nachkommen als auf meine eigene. Ich gelangte zu der klaren Überzeugung, dass eine zahlreiche Familie, wie die meinige, in einem kleinen, engen und noch dazu durch unnatürliche Verhältnisse geplagten Ländchen, wie die bayerische Rheinpfalz, keinen geeigneten Wirkungskreis, kein fröhliches Gedeihen finden würde; Daß hingegen die große amerikanische Union mit ihrem unermesslichen Gebiete, ihren freien Institutionen und ihrer unberechenbaren Zukunft jeder menschlichen Kraft den freiesten und großartigsten Spielraum biete."
"Dazu kam die Betrachtung, daß die politische Gesinnung, die mich beseelte und die ich durch Lehre und Beispiel an meine Kinder zu übertragen wünschte, der heimischen Staatsregierung mißliebig sei, daß ich also entweder die Erziehung meiner Kinder fälschen und mir selbst untreu werden oder sie für immer der Ungunst der Regierung preisgeben müsste."
In den 1830er Jahren steigt die transatlantische Migration aus dem deutschsprachigen Raum rasch zur Massenbewegung auf. Theodor Erasmus Hilgard ist nicht der erste seiner Familie, der den Entschluss zur Auswanderung trifft. Es haben sich bereits Familienmitglieder in Belleville niedergelassen und Hilgard kann in der Form der Kettenmigration nachreisen. Mithilfe des Inhalts der Briefe Hilgards soll sein Alltag als Netzwerk dargestellt werden und es soll der Gebrauch oder das Bereitstellen der Ressource soziales Kapital untersucht werden. Das soziale Kapital Hilgards wird aus dem Briefinhalt modelliert und das Vertrauen zu den Netzwerkakteur:innen wird mithilfe von gesammelten Attributen, wie zum Beispiel dem Migrantenstatus modelliert. Entscheidende Fragen für die Analyse der Briefe sind: Wer ist Teil von Hilgards neuem Umfeld, wem stellt Hilgard sein soziales Kapital zur Verfügung und auf wessen soziales Kapital ist er angewiesen? Mithilfe welcher Attribute können Muster gefunden werden und gibt es genügend Informationen?
Abbildung 1: Theodor Hilgard an Maria Dorothea Hilgard, September 1836, ID-4, S.1 in: Migrant Connections.
Netzwerke bestehen aus einer Anzahl von Knoten (nodes) und Kanten (edges). Sie werden erstellt, um Muster in der Interaktion zwischen den Beteiligten im System zu erfassen. Die Kanten und Knoten tragen Informationen und wenn die Quellen ausreichend Informationen bieten, können sie mit Hilfe verschiedener mathematischer Maße und der Nutzung von Softwaretools analysiert und aussagekräftig visualisiert werden. Eine Vorbedingung für die Entstehung von sozialem Kapital ist ein Netzwerk, in dem getauscht wird. In der egozentrierten Netzwerkanalyse von Hilgards Briefen stellt sich die Frage, wem er sein soziales Kapital zur Verfügung stellt, um sich einen Handlungsvorteil zu verschaffen oder sein Ansehen in der Gruppe der Aussiedler:innen zu erhöhen oder zu halten. Aus dem sozialen Kapital Hilgards soll ein Indikator zur Qualitätsmessung der Beziehung entstehen. In den Briefen nutzt Hilgard sein Grundstück und Haus, um erkrankten Menschen eine Rückzugsort zum auskurieren zu geben, verschenkt einen Rassenhund oder stellt Grund und Boden für Bauprojekte.
Die Sammlung der Daten erfolgt in zwei Tabellen. Die erste Tabelle sammelt den Inhalt der Briefe und ordnet ihn folgenden Spalten zu:
Letter_ID | Person_ID | First Name | Last Name | Content | Use of social capital | Social capital provided | Disease | Event | Visit to Hilgard | Visit from Hilgard | Letters&Greetings |
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0 | 6 | Theodor | Hilgard | Ich habe, nachdem uns der Aufenthalt im Wirtshause zu Belleville unertraeglich geworden, auf ihre freundliche und dringende Einladung etwa 14 Tage lang mit meiner ganzen Familie bei ihnen gehaußt und kann ihr liebes und gastfreundliches Benehmen nicht genug ruehmen. | x | ||||||
5 | 14 | Fritz | Wolf | Die große Whisky Brennerei, die er gemeinschaftlich mit seinem Freunde Fritz Wolf errichtet, ist im Werk. Sie liegt auf meinem Eingenthum [...], ich habe den jungen Leuten mein Acker-Land zu diesem Besuche eigenthuemlich abgetreten. | x |
Die zweite Tabelle sammelt alle Personen, die in Hilgards Briefen auftauchen. Folgende Spalten sind angelegt: ID_Person, First Name, Last Name, Birth, Death, Occupation, Language Acquisition, Migrant Status, Place of Residence, Origin, Relationship, Social status, Sex. Hier werden die spezifischen Merkmale oder Eigenschaften, die zur Quantifizierung der Beziehung genutzt werden können, gesammelt und kategorisiert. Die Beziehung zu Hilgard sowie der Migrantenstatus sind hierfür gut geeignet, da sie fast bei jeder Person recherchiert werden konnten. Das Netzwerk besteht aus 100 Personen inklusive Hilgard selbst.
Abbildung 2: Beispiel von Knoten und Kanten in Hilgards Netzwerk
Abbildung 3: Gesamtnetzwerk Theodor Hilgard
In Abbildung 3 sind alle Knoten und Kanten abgebildet. Die Knoten sind nach dem Migrantenstatus eingefärbt. Die Personen, die keinen Migrantenstatus haben und Briefe, bleiben grau. Die in Deutschland lebenden sind grün, die frisch Ausgewanderten sind lila, die in erster Generation in den USA geborenen sind blau und wer schon mindestens zwei Generationen in Amerika lebt ist orange. Die Knoten zeigen den Namen an und die Größe des Namens ist in Abhängigkeit der Häufigkeit. Die blauen Kanten zeigen den Gebrauch von sozialem Kapital an, die roten die Bereitstellung. Wenn Hilgard Besuch erhält, sind die Kanten grün eingefärbt, wenn er die Personen besucht, sind die Kanten gelb eingefärbt.
Bei der Analyse der Tabellendaten und der Verwendung des Programms Gephi werden die folgenden Ergebnisse ermittelt:
Die Summen der Werte für Eingangs- und Ausgangsgrade kennzeichnen die Schlüsselakteure im Netzwerk von Hilgard. Gephi bietet die Möglichkeit, Verbindungen eines bestimmten Knotens hervorzuheben. Zu den Schlüsselakteuren gehören:
Auszug Statistik:
Bis auf Sharon Tyndale, dem Verlobten und späteren Ehemann seiner ersten Tochter Molli, sind alle von denen Hilgard soziales Kapital nutzt, deutsche Ausgewanderte. Hilgard stellt sein soziales Kapital hauptsächlich den deutschen Ausgewanderten zu Verfügung, mit Ausnahme der Schwester Tyndales, Mrs. Mitchell. Die Familie Tyndale wird von Hilgard sehr geachtet. Durch die Heirat werden die Tyndales in die Verwandtschaft aufgenommen. Die Merkmale Migrantenstatus und Beziehung tragen dazu bei, das Vertrauen und die Normen des sozialen Netzwerks widerzuspiegeln. Mehr Einträge zum sozialen Status hätten die Betrachtung des sozialen Kapitals aus einer neuen Perspektive ermöglicht. Viele der Nutzer:innen weisen einen hohen sozialen Status auf, aber das Attribut kann insgesamt zu selten identifiziert werden, um darin Muster zu erkennen. Ein nächster Ansatz wäre es, weitere Briefserien aus der Gegend zu finden sowie zu transkribieren, um ein größeres Netzwerk und wiederum mehr Einträge beim sozialen Status zu bekommen. Hilgard ist Teil des wichtigen Kerns der deutschen Ausgewanderten in Belleville, aber er war nicht der aktive Drahtzieher der Gemeinschaft, der die deutschen Vereine gründet und Feste ausrichtet. Es deutet darauf hin, dass dies den jüngeren Ausgewanderten zugesprochen werden muss, beispielsweise Hilgards Neffe Theodor Krafft, mit dem über die zukünftigen Karrieren der ankommenden Migrant:innen konferiert wird.
Literatur:
Baecker, Gertrud [u.a.], Die Kurpfälzischen Familien Engelmann und Hilgard, Kaiserslautern, 1959.
Haug, Sonja, Soziales Kapital und Kettenmigration: Italienische Migranten in Deutschland (Schriftenreihe des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Bd. 31), Wiesbaden, 2000.
Hilgard, Peter, Träume haben kein Recht auf Erfüllung. Die Hilgards in Amerika, Münster 2012.
Hyden-Hanscho, Veronika, Ego-Netzwerke zwischen Paris und Wien. Kulturvermittlung im 17. Jahrhundert am Fall Bergeret, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23, 1 (2012), S. 72–98.
Lehmkuhl, Ursula, Das Genre Auswandererbrief, in: Matthews-Schlinzig, Marie I. [u. a.]: Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Interdisziplinarität - Systematische Perspektiven – Briefgenres, Berlin, Boston 2020 (Handbuch Brief; Bd. 1), S. 631-645.